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Mensch, verändere dich!

Junge Frau sitzt auf einer Holzbank im Zentrum für ARR. An der Hand ein dunkler Schimmel am Halfter, beide wirken entspannt und zufrieden. Im Hintergrund die grünen Wiesen der Anlage.
Foto: Michael Theyßen

Manchmal verrennen wir uns im Leben trotz bester Absicht in Sackgassen. In solchen Momenten sollten wir nicht mit der Vergangenheit hadern, sondern innehalten, durchatmen und von vorn beginnen – auch im Umgang mit unseren Pferden.

Machen wir ein kleines Experiment: Suchen Sie nach Informationen, indem Sie Ihr Pferd losgelöst von allen Emotionen nüchtern betrachten. Stellen Sie sich dazu einfach neben Ihr Pferd, treten Sie etwas zurück und lassen Sie Ihren Blick langsam über das gesamte Pferd gleiten. Was können Sie erkennen?

Wie sieht das Fell Ihres Pferdes aus: Ist seine Farbe gleichmäßig oder sehen Sie einige gelben Strukturen? Was sagt die Muskulatur: Erscheint sie Ihnen positiv? Ist der Rücken kräftig oder hängt er durch? Hat Ihr Pferd eine ausgeprägte Unterhalsmuskulatur? Sind die Hufe gleichmäßig geformt? Legen Sie nun den Sattel auf: Reagiert Ihr Pferd unwillig? Wie bewegt sich Ihr Pferd unter dem Sattel? Geht es gleichmäßig, hat es einen schreitenden Schritt? Fehlt es an der Rittigkeit? Geht Ihr Pferd im Takt rein oder tritt es mit einem Hinterbein kürzer? Wenn Ihnen auch nur bei einer dieser Fragen Zweifel kommen, ist das Anlass genug, über eine Veränderung nachzudenken.

Worauf sich gleich die nächste Frage aufdrängt: Was hält Sie davon ab, eine Veränderung in Angriff zu nehmen? Stehen Sie sich vielleicht gar selbst im Weg und müssten Sie zunächst daran arbeiten, dich selbst zu verändern, um dem Pferd Raum für Veränderung zu geben?

So nah und doch so fern

Viele der Pferdebesitzer spüren, dass sich manches nicht so anfühlt, wie man es sich vorstellt, also dass sich einiges ändern muss. Doch aus Verwirrung oder aufgrund von Abhängigkeiten, die aus vermeintlich klaren helfenden Empfehlungen entstanden und trotzdem nicht weiterführten, kommt es nicht selten zu Fehleinschätzungen. Diese werden durch fehlgeleitetes Vertrauen gestützt und lehren leider nicht selten vor allem das Wegschauen.

Und wenn sich nach Monaten und Jahren mit unterschiedlichen Reitlehrern, vielfältigen Kurswochenenden, verschiedensten Pülverchen, unzähligen Therapeuten und einer Kammer voller Sättel noch immer nichts verändert hat, stellt sich eines Tages die Frage: Was hilft meinem geliebten Pferd denn noch? Durch all die Jahre der Behandlung und Sensibilisierung auf Verhaltensweisen und Gangbildveränderungen scheint man besonders eng mit seinem vierbeinigen Freund verwachsen zu sein. Doch in Wirklichkeit ist schleichend und fast unbemerkt das Gegenteil passiert: Pferd und Besitzer haben sich voneinander entfernt. So paradox es scheinen mag: In dieser Situation ist der Schritt zurück dringend angesagt, um ein neues Zueinander zu finden. Und dieser Schritt zurück muss in aller Deutlichkeit erfolgen – ein Schritt zurück zum Anfang.

Dieser Schritt zurück ist in vielen Fällen durchaus schmerzhaft und führt mit seiner objektiven Analyse den Pferdebesitzern in aller Klarheit vor Augen, dass einiges falsch gelaufen ist. Nicht zuletzt gilt es zu erkennen, wo die Ursachen für all die Probleme liegen. Daraus folgt das ehrliche und gesunde Eingeständnis, dass man bei einem Neubeginn Hilfe in Anspruch nehmen sollte – ein Eingeständnis, das Größe beweist, und nicht etwa eine Niederlage darstellt.

Loslassen und neu beginnen

Das geliebte Pferd in diesem entscheidenden Augenblick für eine begrenzte Zeit loszulassen, um ihm eine Genesung und Stärkung – also einen Neuanfang – zum Beispiel im Rahmen eines Reha-Aufenthalts zu ermöglichen, fällt vielen Pferdebesitzern schwer, weil oft die Emotion höher ist als das Erkennen des dringenden Loslassens. «Ich gebe mein Pferd nicht weg!», heißt es dann – man hat vielleicht schlechte Erfahrung gemacht und ist verständlicherweise vorsichtig – doch kann diese Einstellung für einen Neubeginn nicht förderlich sein. Der Weg in eine gesunde und erfreuliche gemeinsame Zukunft beginnt immer mit der Bereitschaft zum Loslassen. Das Loslassen wird den Menschen das ganze Leben begleiten, auch außerhalb der Pferdewelt.

Gerettete Pferde, sei es von der Rennbahn oder vom Schlachter bzw. aus dem Sport verabschiedete ehemalige Spitzenathleten, sind besonders von den Folgen menschlicher Emotionen betroffen. Diese unter Umständen traumatisierten Pferde physisch und psychisch wieder «hinzukriegen» ist eine große Herausforderung. Sie tragen nicht selten einen schweren «Rucksack» mit vielen Traumata, die sich belastend für Mensch und Pferd auswirken, weil das Ausmaß dieser Reaktionen selbst von vielen Fachleuten nicht richtig gedeutet werden.

Das ehrenwerte Engagement für ein gerettetes Pferd wird oftmals belastet, da ihre «Retter» (meist sind es Retterinnen) nur schwer mit den anhaltenden negativen Reaktionen ihres Schützlings umgehen können. Was erst nach einem spät erfüllten Mädchentraum aussah, stellt sich daher bald als täglicher Albtraum heraus. Negative Emotionen verletzter Eitelkeit stellen sich nicht selten ein, Fragen tauchen auf: «Warum macht er das denn immer noch, obwohl ich schon so viel für ihn aufgeopfert und investiert habe?» Diese Fragen kann der Markt nicht befriedigend beantworten. Der Frust beginnt dort, wo die Frage des Loslassens nicht erkennbar zu sein scheint.

Negative Muster zeigen sich aber auch bei langjährigen Pferd-Mensch-Beziehungen. Der Frust der Besitzer gärte dort oft schon lange Zeit, viele Fragen blieben über Jahre – mit Sicherheit auch unbewusst – unbeantwortet. Nimmt man diese Pferde in ein physiologisches Training, d.h. man korrigiert ihre natürliche Schiefe, geschieht es, dass selbst ihre langjährigen Besitzer ihre Pferde bereits nach 2 bis 3 Wochen Training kaum wiedererkennen.

Entscheidender Faktor Zeit

Während einige «Wunden» Zeit brauchen zum Verheilen, ist es entscheidend, dass andere sofort versorgt werden. Im Vordergrund muss die Anpassung des Trainings stehen. Dieses muss das Pferd aus der negativen Spirale – einem körperlichen und mentalen Fluchtverhalten – in die positive Athletik führen. Dieser Prozess muss zügig und systematisch erfolgen. Innerhalb von 3 bis 4 Wochen ohne Reitergewicht durch funktionelle Longenarbeit sollte er vollzogen sein. Dann findet das Pferd durch das Geraderichten und über die Hankenbeugung den absolut notwendigen inneren Anker für äußere Athletik: die Bewegung im Schwerpunkt. Für den Pferdebesitzer bedeutet dies, alte Ausbildungstechniken und Ausrüstungsgegenstände zu überdenken, Fragen zu stellen, sich neues Wissen anzueignen und die Komfortzone zu verlassen.

Dieser Prozess ist das nun sichtbar werdende Loslassen, weil man jetzt erkennt, dass die Sackgasse sich öffnet und richtig zu deuten ist.

Herdentiere und schwarzen Schafe

Wenn wir von der Vermenschlichung eines Pferdes sprechen, ist das Nicht-loslassen-Können eine der verbreitetsten Formen davon. Zu glauben, dass das Wohlbefinden unserer Pferde von unserer Person abhängt, stellt sich immer als Irrtum heraus. Ein Pferd ist ein Fluchttier und was noch bedeutender ist, es ist ein Lebewesen mit ausgeprägten Herdenverhalten. Das bedeutet, es unterliegt einem sozialen System, dem sozialen System der Sicherheit der Herde. Daran hat auch die Domestizierung nichts geändert. Selbst wenn ein Pferd nicht im Herdenverband durch die weite Steppe zieht, ist diese genetische Verankerung sein inneres Programm. Für dieses Fluchttier bedeutet «glücklich sein» im menschlichen Sinne nur eines: Gesundheit sowie mentale und körperliche Stärke – und die Sicherheit der auf Souveränität und Vertrauen basierenden Hierarchie. Sind diese Grundvoraussetzungen geschaffen, wird das Pferd sich wohl und zufrieden fühlen. In diesem Sinne ist ein Reitpferd dann glücklich, wenn es seinen Reiter ohne gesundheitliche Beeinträchtigung und ohne Stress tragen kann: Nämlich über seinen starken Rücken und einen gut gymnastizierten Körper, d.h.es braucht die Dehnung, die es fähig macht, sich selbst zu tragen.

Kritisches Hinschauen ist wichtig, sehr sogar. Denn es gibt sie auch, die schwarze Schafe in der Ausbilder-Herde: renommierte Ställe namhafter Ausbilderinnen und Ausbilder, in denen die Pferde anstelle der versprochenen Turnierschleifen insbesondere nachhaltige körperliche und seelische Traumata mit nach Hause bringen. Oder der noch wenig bekannte Pferdeflüsterer – ein wahrer Geheimtipp! – der nach sechs intensiven Monaten Reha-Training mit seiner sanften Handarbeit insbesondere zum verlässlichen Absinken des Rückens des zunehmend depressiven Kissing-Spines-Pferdes beigetragen hat. Kritisches Hinschauen ist unbedingt dann gefragt, wenn es um den richtigen Ausbildungsplatz geht. Lassen Sie sich vom Ausbilder Ihres Vertrauens ein Pferd zeigen, das bereits einen Monat in der Ausbildung ist, treten Sie besagten Schritt zurück und stellen Sie sich oben genannte Fragen noch einmal. Wenn Sie diese positiv beantworten können, nutzen Sie die Chance: Geben Sie ihr Pferd in fachkundige Hände und – genauso wichtig – lernen Sie, Ihr Pferd anschließend selbständig nachhaltig gesund auszubilden.

Gehen Sie jetzt noch einmal zu den Fragen vom Anfang dieses Textes und beantworten Sie jede von ihnen. Ganz ehrlich. Und denken Sie daran, es ist einzig das Wissen, in Theorie und Praxis, dass der Vermenschlichung des Pferdes einen Riegel vorschieben kann. Es ist das Wissen, das den Menschen Emotionen kanalisieren und verarbeiten lässt. Es ist das Wissen, das positive Veränderungen bringt. Darum bitte: lesen und lernen Sie – und schauen Sie hin!

Text: Gabriele Rachen-Schöneich, Zentrum für Anatomisch richtiges Reiten ARR