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Schluss mit schief

Mein Pferd
Mein Pferd
2019/02

Egal ob Ausbilder, Reiter oder Pferdehalter – wir tragen die Verantwortung für die Gesunderhaltung unserer Pferde. Um Bewegungsproblemen vorzubeugen oder diese zu beheben, ist die Korrektur der natürlichen Schiefe von großer Bedeutung. Warum das so ist und wie das Training gestaltet werden kann, erklärt Gabriele Rachen-Schöneich.

Mit gesenktem Kopf steht Piccolo in seiner Box. Nach der letzten Turniersaison wurden bei dem fünfjährigen Hannoveraner-Wallach Kissing Spines diagnostiziert. „Bereits im Sommer war Picco plötzlich sehr verspannt und fiel immer mehr auf die Vorhand“, erinnert sich seine Besitzerin Laura Mansig. „Bald hatte er starke Probleme mit der Biegung und zeigte Taktstörungen in den Verstärkungen. Kurze Zeit später wurde er widersetzlich und lahmte dann deutlich.“ Der Tierarzt verordnete zunächst Boxenruhe bis auf ein paar Schrittrunden auf festem Boden. Doch die Beschwerden besserten sich nicht. Auch das Antrainieren mit dem Fokus auf Vorwärts-Abwärts-Reiten zeigte keine Wirkung. „Vor Kurzem lernte ich einen Ausbilder kennen, dem ich von Picco erzählte. Er erzählte mir, dass die Auswirkungen der natürlichen Schiefe zu Bewegungsproblemen führen können“, sagt Laura und fügt hinzu: „Meine Hoffnung ist nun, dass er mir bei der Therapie meines Pferdes helfen kann.“

Wichtige Aufklärungsarbeit

«Beinahe 95 Prozent aller Bewegungsprobleme des Pferdes basieren unserer Meinung nach auf der natürlichen Schiefe und den Auswirkungen, die sie unter anderem auf den Bewegungsapparat hat», sagt Gabriele Rachen-Schöneich, die gemeinsam mit ihrem Mann Klaus Schöneich die sogenannte Schiefen-Therapie entwickelt hat und seit über 20 Jahren Pferde im Zentrum für anatomisch richtiges Reiten (ARR) in Goch trainiert. Dem notwendigen Geraderichten werde im Training kaum oder keine Beachtung geschenkt. Aus der Sicht der Experten sollten bereits ganz junge Pferde geradegerichtet werden, um frühzeitige Schäden zu vermeiden. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Arbeit am Boden, die dann in den Sattel übertragen werden kann. «Vorderlastigkeit und die mit ihr zusammen existierende natürliche Schiefe haben weitreichende Auswirkungen», erklärt Gabriele Rachen-Schöneich und betont: «Die natürliche Schiefe kann nicht mit ein paar Rezepten therapiert werden, da gehört eine ganze Menge mehr dazu. Es verlangt als Allererstes eine intensive Beschäftigung mit sich und dem Pferd. Wir möchten, dass Ausbilder und Reiter diese Tatsache erkennen. Um das zu erreichen, betreiben wir Aufklärungsarbeit.» Das Thema Schiefe ist in der Ausbildung des Pferdes allgegenwärtig, dennoch wird sie in ihrer Bedeutung vielfach unterbewertet. Doch warum muss die Schiefe bei einem Pferd bereits so früh in Ansätzen therapiert werden, wenn das Geraderichten in der Skala der Ausbildung erst an fünfter Stelle steht?

Vorderlastigkeit ist angeboren

Viele Reiter beschäftigen sich erst auf dem Weg zur Klasse L mit dem Geraderichten. In der Grundausbildung zuvor wird die natürliche Schiefe häufig vernachlässigt. Ebenso bei Freizeitpferden. Doch dabei ist ein korrekter Bewegungsablauf nicht nur für Turnierpferde wichtig. Werfen wir einen Blick auf die Bedeutung der Vorderlastigkeit: «So wie der aufrechte Gang eine für den Menschen typische und natürliche Haltung ist, so ist die Vorderlastigkeit beim Fluchttier Pferd eine seiner stark ausgeprägten natürlichen Verhaltensweisen», sagt Gabriele Rachen-Schöneich. Wenn junge Pferde unter normalen Bedingungen aufwachsen, wird ihnen diese angeborene Vorderlastigkeit keinerlei Probleme bereiten. Doch bereits ein Mangel an Bewegung und fehlender Kontakt zu Artgenossen, beispielsweise durch Boxenhaltung, kann zu größeren Schwierigkeiten führen. Diesen Pferden fehle nicht nur die notwendige Gymnastizierung durch das Spiel mit Gleichaltrigen, sondern ganz besonders auch das Herdenverhalten. «Das wirkt sich dann so aus, dass nicht nur die Bewegungsabläufe gestört sind, sondern auch das Sozialverhalten», gibt unsere Expertin zu bedenken. «Was den körperlichen Bereich angeht, beginnt das eigentliche Problem in dem Moment, in dem der Mensch von seinem Pferd Tragfähigkeit fordert. Hier liegt die Gefahr, dass aus der Forderung eine Überforderung wird.»

Die Hauptlast liegt auf der Vorhand

Laut unserer Expertin ist die Vorderlastigkeit als natürlicher Reflex tief im Kopf des Pferdes verankert und folglich auch in seiner Muskulatur. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen weist der Oberkörper, also Kopf, Hals, Schulter und Brustkorb ein erhebliches Gewicht auf, da sich in diesem Bereich auch die meisten Organe befinden. Zum anderen benutzt das Pferd die Vorderbeine sozusagen als Tastbeine, um den Boden vor sich richtig einschätzen zu können. «Um das Pferd dazu zu bringen, seine Vorderlastigkeit aufzugeben, bedarf es einer sehr behutsamen Einwirkung des Ausbilders», sagt Gabriele Rachen-Schöneich. Von Natur aus trägt das Pferd die Hauptlast auf seinen Vorderbeinen. Kommt nun noch das Reitergewicht hinzu, dann steigt die Belastung. Selbst unter bereits ausgebildeten Pferden gibt es viele Fälle, in denen die Vorderlastigkeit immer noch ein Thema ist. Um die Bedeutung dieser einschätzen zu können, müssen wir uns mit der Gesetzmäßigkeit des längsten Muskels im Pferdekörper beschäftigen. Zur Therapie der Vorderlastigkeit und anschließend der Schiefe brauchen wir die gesamte Längsachse des Pferdes – von Kopf und Hals bis zum Lendenbereich. Eine Vorderlastigkeit ist stets mit einem nach unten gedrückten Rücken verbunden. In diesem Zustand ist das Pferd nicht in der Lage, den Reiter zu tragen ohne dabei (auf Dauer) Schaden zu nehmen. Wenn sich schließlich die Rückenmuskulatur immer mehr verkürzt, dann wird auch die Durchblutung reduziert. Infolgedessen können Nährstoffe nicht mehr in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden, und der Stoffwechsel bricht zusammen. «Der Abbau der Muskulatur geht mit dem nach unten gedrückten Rücken einher», erklärt unsere Expertin. «Die Belastung der Gelenke, einschließlich der Wirbelsäule, ist enorm.» Der mittlere Teil des Körpers ist nun vergleichbar mit einer Hängebrücke. Wie viel Stabilität diese bieten kann, können Sie sich ohne viel Fantasie vorstellen.

Text: Aline Müller